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Russischer Deserteur: „Während meiner 9-monatigen Dienstzeit in der Einheit wurde kein einziger ukrainischer Gefangener am Leben gelassen«

Der 34-jährige Lehrer Ilja Jelochin aus der Region Perm hätte nach medizinischen Kriterien nicht in den Krieg ziehen dürfen – wurde jedoch in die besetzte Region Donezk geschickt. Er konnte vom Dienst fliehen, entkam aus Russland und berichtet nun von seinen Erlebnissen.

In seiner Heimatstadt Kungur arbeitete Ilja Jelochin als Grundschullehrer und leitete ein Tanzensemble. Trotz Herz- und Nierenproblemen sowie bronchialem Asthma war er überzeugt, an die Front nicht eingezogen zu werden. Während er 2022 der Mobilisierung entgehen konnte, wurde Ilja im Frühjahr 2024 durch Einschüchterungen und Druck gezwungen, zum Wehrkommissariat zu erscheinen, von wo aus er an die Front geschickt wurde. Er beteuert, keinen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben zu haben, und die Unterschrift auf dem Vertrag sei gefälscht (der Redaktion liegt eine Fotokopie des Vertrags und eine Beschwerde über Verfahrensverstöße bei Vertragsabschluss vor).

Trotz aller medizinischen Befunde und Berichte mit der Bitte, ihn vom Dienst zu befreien (auch diese liegen der Redaktion vor), erreichte Ilja nur, dass er statt an die Front an das Stabsbüro versetzt wurde – wie die Soldaten selbst sagten, als „Schreiber« oder „Lakai«. Er wurde in die berüchtigte Militäreinheit Nr. 71443 eingegliedert.

Foto aus Iljas privatem Archiv

Vor einem Jahr erschien auf Change.org eine Petition mit dem Titel „Willkür der Kommandantur der Militäreinheit 71443«, verfasst von Angehörigen und Freunden der Soldaten. Bis heute haben über 1.500 Menschen unterschrieben. Die Autoren klagen über „verspätete Auszahlung von Geldleistungen, fehlende medizinische Versorgung, Erpressungen, Abhebungen von Geld von Karten der Gefallenen und Vermissten, Beschlagnahme ziviler Dokumente und persönlicher Gegenstände«, Schläge, Folter und Demütigungen. Ilja zufolge musste er einen Großteil der in der Petition genannten Grausamkeiten selbst miterleben und erfahren.

Krieg und Geld

Nach Iljas Aussage bestanden die meisten seiner Kameraden aus Vertragssoldaten, die in der Hoffnung auf Verdienst an die Front gingen, sowie ehemaligen Häftlingen. Allerdings überlebten die meisten die Zahlungen nicht. Ilja behauptet, dass von den „Fleischstürmen« kaum jemand lebend zurückkehrte.

Manchmal wurden Verwundete zurückgebracht, doch ohne sie auszukurieren, holte man sie aus den Krankenhäusern und schickte sie zurück in den Angriff«, erinnert er sich.

Während der neun Monate, die der ehemalige Lehrer in der Einheit verbrachte, seien nach seinen Angaben etwa 1500–1600 Menschen gestorben oder vermisst worden. Da die Einheit selbst nicht mehr als 350 Mann zählt, hat sich ihr Personal während Iljas Dienstzeit mehrfach „auf Null gesetzt«.

Die Situation verschärft sich dadurch, dass Verwundete vom Schlachtfeld kaum evakuiert werden. Als ich im Stab saß, sah ich das persönlich auf Monitoren, die Aufnahmen von Drohnen über dem Schlachtfeld zeigten. Man konnte sehen, wie Menschen lagen, um Hilfe riefen, doch niemand half ihnen«, erzählt Ilja.

Seine Arbeit im Stab war ebenfalls mit dem Tod verbunden – der einfache Soldat Jelochin musste buchstäblich in den Eingeweiden der vom Schlachtfeld gebrachten Leichen nach Armee-Erkennungsmarken und anderen Identifikationszeichen suchen. Anschließend fotografierte er die Leichen und übergab alle Funde der Kommandantur. Doch seine Arbeit war nicht immer nützlich – Ilja zufolge wurden selbst identifizierbare Gefallene oft als vermisst oder eigenmächtig abwesend erklärt, um den Angehörigen die gefürchteten „Sarggelder« nicht zahlen zu müssen.

Der Kompaniechef Sergej Maschtakow sagte oft direkt: ‚Was soll ich ohne Krieg tun? Ich habe Kredite, ich brauche Geld.‘ Manchmal wiederholte er, dass ‚wenn nötig, nehmen wir auch Deutschland und Frankreich‘. Einerseits wollte er verdienen, andererseits schien er Angst zu haben, bei einer Niederlage für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden, weshalb er bereit war, bis zum Äußersten zu gehen«, erinnert sich Ilja.

Erschießungen und Misshandlungen

Auf Anraten seiner Frau „spielte Ilja den Dussel«, jammerte ständig und klagte über Krankheiten, nur um nicht an die Front zu kommen. Diese Strategie rettete ihn laut eigener Aussage tatsächlich vor dem Tod, führte aber dazu, dass er im Stab zum ständigen Ziel von Demütigungen wurde. Man schlug ihn, zog ihm Frauenkleider an und erniedrigte ihn öffentlich, wobei die Demütigungen mit dem Handy aufgenommen wurden.

Eine viel schwerere Prüfung für den Rekruten war jedoch der Versuch, ihn in die allgemeine „Kollektivhaftung« einzubeziehen. Um „einer von ihnen« zu werden, sollte er auf Befehl von Maschtakow einen ukrainischen Gefangenen erschießen.

Während meiner gesamten Dienstzeit in der Einheit wurde kein einziger ukrainischer Gefangener am Leben gelassen«, gesteht Ilja. – „Manchmal wurden sie in die Einheit gebracht, und einige unserer Leute wurden gezwungen, sie zu erschießen. Wenn sie ablehnten, sagte man ihnen direkt: ‚Entweder du schießt, oder wir setzen dich auf Null.‘ Fast alle stimmten danach zu zu schießen«.

Diese Wahl wurde auch Ilja angeboten, doch er weigerte sich strikt, einen Gefangenen zu töten.

Ich wusste, dass mich der Kommandeur für diese Weigerung töten könnte. Im ersten Moment hatte ich Angst, dann aber aus irgendeinem Grund nicht mehr. Ich dachte nur daran, dass das schnell vorbei sein möge«, erzählt er.

Foto aus Iljas privatem Archiv

Ilja versteht selbst nicht, warum er überlebte. Danach wurde er schwer verprügelt und die Demütigungen wurden zur Regel.

Manche wurden mit mir als Beispiel konfrontiert, dass sie, wenn sie sich weigerten, Gefangene zu erschießen, genauso behandelt würden wie ich«, erinnert sich der Gesprächspartner von „Most«.

Gefangene wurden tatsächlich getötet, danach wurde so getan, als kämen ihre Leichen von der Front. Ilja versichert, dass er sich nicht irren konnte – es waren die gleichen Ukrainer, die er kurz zuvor lebend gesehen hatte. Auch mit den Leichen wurde gefoltert – bis hin dazu, dass man ihnen den Kopf abtrennte und mit ihm Fußball spielte.

Ebenso viele Demütigungen trafen jene, die versuchten zu fliehen. Ilja sah mit eigenen Augen, wie sie in die berüchtigte „Grube« gesperrt wurden: „In Panteleimonowka, wo die Einheit stationiert war, gab es eine Zelle mit einer Eisentür. Dort sperrte man Menschen ein oder hing sie auf. Vor meinen Augen wurden zwei Deserteure, die fliehen wollten, dort eingesperrt. Sie wurden mit Schlagstöcken geschlagen, an die Finger wurden Elektrokabel angeschlossen und Strom durchgeleitet. Nach der Folter bot man ihnen an: Entweder sie gehen an die Front, oder wir setzen sie auf Null. Viele entschieden sich für die Front – für sie war das besser, als in der Grube zu sterben«.

Doch selbst an der Front wurden eigene Leute erschossen. Wenn Kommandeure sahen, dass ein Soldat fliehen oder sich ergeben wollte, wurde über Funk sofort der Befehl zum „Nullsetzen« gegeben. Dem Unglücklichen wurde dann einfach in den Rücken geschossen.

Einmal, als der Hauptkommandeur Jewgeni Belezki kam, sprach er selbst mit den in der Grube sitzenden Verweigerern und drohte, sie auf Null zu setzen, wenn sie nicht in den Angriff gingen. Sie weigerten sich, an die Front zurückzukehren, und wurden dann erschossen. Ich habe ihre Leichen selbst gesehen«, berichtet Ilja.

Erpressung

Ilja beschreibt die Atmosphäre ständiger Todesgefahr und Gewalt als unerträglich. Er versuchte, mit seiner Frau zu telefonieren, doch die Gespräche waren bruchstückhaft: Kommandeure und Politoffiziere kontrollierten ständig sein Telefon. Als einige Mitglieder der Einheit rebellierten und eine Beschwerde bei der Militärstaatsanwaltschaft in Donezk einreichten, wurden sie schwer verprügelt, an den Angriff geschickt und alle Handys beschlagnahmt.

Das Wegnehmen der Telefone hatte auch einen anderen Grund – so erhielten die Kommandeure Zugriff auf die Konten ihrer Soldaten. Von den Soldaten wurde verlangt, PIN-Codes und Passwörter ihrer Banking-Apps herauszugeben. Manchmal war dies sogar gar nicht nötig.

Einmal sah ich, wie sie einen Bankmitarbeiter in die Einheit einluden. Er stellte den Soldaten Karten aus und installierte die Banking-App direkt vor den Kommandeuren auf den Handys, sodass diese von Anfang an alle Daten kannten. Wenn die Soldaten zum Angriff gingen, blieben die Telefone bei den Kommandeuren, die nach deren Tod das gesamte Geld von den Konten abheben konnten«, erzählt Ilja.

Darüber hinaus erinnert sich Ilja an ständige Abgaben für Schutzwesten oder militärische Ausrüstung. Später wurde die Erpressung noch offenkundiger – etwa wenn Soldaten Geld zahlen sollten, um nicht in den Angriff zu müssen.

Sie zahlten, aber in der Regel wurden sie nach zwei Wochen trotzdem dorthin geschickt und kehrten nicht zurück«, gesteht er. Nach seinen Worten ist die Information unabhängiger Journalisten, dass praktisch alles, was bei der „SVO« verdient wird, dort bleibt, völlig korrekt.

Flucht

Ilja zahlte ebenfalls, um nicht an die Front zu müssen – bis er merkte, dass seine „Nullsetzung« trotzdem bald bevorstand. Trotz aller Einschränkungen gelang es ihm, Kontakt zu Vertretern der Organisation „Geht in den Wald« aufzunehmen und mit deren Hilfe einen Fluchtplan zu entwickeln. Auch das Glück half – Ilja bekam einen fremden Urlaubsschein in die Hände, den er mit Photoshop fälschte und auf sich umschrieb. Es blieb nur noch, einen Weg zu finden, die Einheit zu verlassen.

Inzwischen wurde Ilja offensichtlich auf die „Nullsetzung« vorbereitet. Es kam so weit, dass die Kommandeure ihm befahlen, sich von seiner Frau scheiden zu lassen und eine andere Frau zu heiraten – offenbar damit sie später die heiß begehrten „Sarggelder« erhalten konnte. Interessanterweise berichten sogar kremlnahe Medien gelegentlich über das Phänomen der „schwarzen Witwen«, die auf die Hinterbliebenenzahlungen von Vertragssoldaten aus sind. Dabei verschweigen sie diskret, dass solche Witwen oft mit Kommandeuren der Einheiten verbunden sind und direkt für sie arbeiten.

Ilja tat so, als stimme er zu, und bekam eine dreitägige Freistellung – allerdings nur unter der Bedingung, dass er sich mit einer Frau trifft und mit ihr Liebe macht (die Erlaubnis zur Bewegungsfreiheit liegt ebenfalls der Redaktion vor). Der Kommandeur verlangte sogar, ihm ein Video als Beweis der Liebesakte zu schicken. Stattdessen nahm Ilja ein Taxi nach Rostow und rannte davon. Es gelang ihm auf wundersame Weise, die Kontrollstelle zu passieren und nach Russland zurückzukehren, von wo aus er schließlich nach Armenien floh.

Foto: TV2-media / YouTube

Jetzt hofft Ilja, in einem westlichen Land politischen Asyl zu erhalten und versucht, sich von den Erlebnissen zu erholen. Seinen Worten zufolge verlieren die meisten russischen Soldaten beim Einsatz an der Front ihre letzten menschlichen Regungen, doch selbst die tierische Grausamkeit hilft ihnen weder zu überleben noch das auf Blut verdient Geld zu bekommen.

Auf dem Hauptfoto: Ilja Jelochin. Quelle: TV2media / YouTube

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