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Wahrheit gegen Patriotismus: Das Tagebuch von Marta Hillers „Eine Frau in Berlin«

Die Berliner Journalistin Marta Hillers suchte weder Ruhm noch Popularität. Sie versuchte ganz bestimmt nicht, wie man heute sagen würde, „mit ihrem Leid zu provozieren«. Sie musste sich einfach nur äußern, mit anderen teilen, was sie selbst erlebt hatte und was Hunderttausende andere deutsche Frauen jener Zeit durchmachten. Ein Gefühl – wenn nicht von Mitgefühl, dann zumindest von Verständnis. Leider erhielt sie zu Lebzeiten von ihrem Land weder das eine noch das andere.

Das Schicksal von Marta Hillers und ihr Buch „Eine Frau in Berlin« weckte mein Interesse im Rahmen eines größeren Themas – der massenhaften Gewalt sowjetischer Soldaten gegenüber deutschen und nicht nur deutschen Frauen und Kindern am Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieses Buch ist der Bericht einer deutschen Journalistin darüber, was ihr und vielen anderen deutschen Frauen Ende April bis Juni 1945 widerfuhr. Über das Leben in einer zerbombten und zerstörten Stadt, in der Frauen des besiegten Landes zur Beute der Sieger wurden. Während dieser ganzen Zeit führte sie ein Tagebuch.

1954 veröffentlichte Marta es in den USA unter einem Pseudonym auf Englisch. Das Buch verkaufte sich schlecht und hatte keinen großen Erfolg. 1959 erschien es ebenfalls unter einem Pseudonym in Deutschland.

In der DDR wurde die anonyme Autorin beschuldigt, a) „die Ehre deutscher Frauen beschmutzt« zu haben und b) antikommunistische Propaganda zu betreiben. Sehr durchdachte Anschuldigungen, wenn man bedenkt, dass niemand in Deutschland die in diesen Memoiren geschilderten Fakten leugnen würde, weshalb man sie stattdessen der Unsittlichkeit und des Antikommunismus bezichtigte.

In den 1950er Jahren heiratete Marta und zog in die Schweiz. Angebote, ihre Memoiren neu zu veröffentlichen, lehnte sie bis zu ihrem Lebensende kategorisch ab. Erst zwei Jahre nach ihrem Tod – 2003 – erschienen sie wieder und wurden sofort zu einem Bestseller. 2008 wurde in Deutschland ein Spielfilm nach ihren Tagebüchern gedreht, in dem auch russische Schauspieler mitwirkten, zum Beispiel Jewgeni Sidichin.

2019 wurde das Buch von Marta Hillers in Russland von einem wenig bekannten unabhängigen Verlag aus Belgorod, „Totenburg«, veröffentlicht,

und bereits im November 2021, drei Monate vor dem groß angelegten Angriff Putins auf die Ukraine, wurde es als „extremistisches« Material verboten.

Als ich begann, mich mit Hillers Erinnerungen vertraut zu machen, hatte ich bereits die Memoiren des sowjetischen Zweiter-Weltkrieg-Veteranen Leonid Rabitschew „Der Krieg wird alles vergeben« gelesen. Und das ist noch viel schrecklicher. Es ist ein großer Lebensbericht, in dem auch Seiten dem Thema gewidmet sind, das auch in Martas Tagebüchern reflektiert wird. Dasselbe, nur aus der anderen, sowjetischen Perspektive.

Auf diese Memoiren des sowjetischen Offiziers werden wir noch zurückkommen, vorerst nur so viel: Selbst danach ist das Buch von Hillers nichts für schwache Nerven. Es ist ein Dokument der Epoche, stark und schwer. Es ist auch deshalb interessant, weil Marta eine von vielen war. Wie das Tagebuch des Leningrader Mädchens Tanja Sawitschewa – die Aufzeichnungen einer Einzelperson, die eine gewaltige menschliche Tragödie namens Belagerung von Leningrad veranschaulichen.

Beide Tagebücher sind Spiegel, in denen sich die grausame Realität jenes Krieges widerspiegelt. Nur wurde Tanja Sawitschewa, deren Tagebuch als Beweis für die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus im Nürnberger Prozess verwendet wurde, im Grunde kanonisiert, als sowjetische Märtyrerin verehrt. Marta Hillers hingegen wurde mit allen erdenklichen Vorwürfen belegt. Sie sei eine Hure, eine Antikommunistin und überhaupt „nichts gewesen«. Weder die Fakten, die sie beschreibt, noch ihre Gefühle, noch sie selbst. Letzteres wird besonders von Kritikern aus dem heutigen Russland betont. Außerdem sei das Buch aus ihrer Sicht zu gut geschrieben und redigiert („kinohaft«). Man stelle sich vor! Die Autorin, selbst Journalistin, hat ihre Aufzeichnungen vor der Veröffentlichung literarisch bearbeitet. Das ist kein Zufall, keineswegs…

Darüber hinaus beschuldigen fast alle russischen Rezensionen Marta Hillers, eine „Nazi« gewesen zu sein. Daraus soll der Leser natürlich automatisch schließen, dass sie kein Mitleid verdient. „Eine Nazi« zu vergewaltigen sei keine Sünde.

Aus der Sicht regierungsnaher russischer Historiker gab es damals in Deutschland keine Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten.

Nun, nach der Veröffentlichung von Rabitschews Erinnerungen (und es gab weitere Zeugen von sowjetischer Seite: Lew Kopelew, Michail Koryakow, Natalja Gesse, Sachar Agranenko, ganz zu schweigen von ausländischen Forschern zu diesem Thema) ist die Frage „Gab es das oder nicht?« für jeden vernünftigen Menschen abgeschlossen. Man kann dazu aufrufen, nicht darüber zu sprechen, wie es Rabitschews Freundin, Dichterin, Prosaautorin und Journalistin Olga Ilnizkaja flehte: „Ich will das nicht hören, ich möchte, dass du, Leonid Nikolajewitsch, diesen Text vernichtest!« Aber leugnen geht nicht.

Als sehr alter und kranker Mann fand der Veteran die Kraft, dem Drängen nicht nachzugeben und diesen Teil seiner Erinnerungen nicht zu vernichten. Für Rabitschew war das, wie man versteht, ein Akt der Buße für eine schwere Sünde, mit der er seinen Lebensweg nicht abschließen konnte… Wenn auch nicht so schrecklich wie Major A., der seine Untergebenen im Hof des Stabs aufstellte (!): Hosen runter, vorwärts!... Und dann zwei mehrfach vergewaltigte und verstümmelte Mädchen – zwei Schwestern, die zu den sowjetischen Soldaten um Hilfe kamen, weil sie während der Deportation aus Ostpreußen ihre Eltern und ihren Bruder verloren hatten – erschoss.

Nein, Rabitschews persönliche Sünde war kleiner. Er schlug nicht, verstümmelte nicht, tötete nicht, aber... Er war auch beteiligt. Er widerstand nicht, als Kameraden ihn herausforderten: „Was, du bist kein Mann?!« Er hatte, wie andere sowjetische Soldaten in Ostpreußen, damals eine breite Wahl. Deutsche Frauen hatten keine Wahl.

Er konnte nicht gehen, ohne all das zu erzählen.

Leonid Rabitschew im Jahr 1945. Quelle: Wikipedia

Aus dem Buch von Leonid Rabitschew „Der Krieg wird alles vergeben«:

„…unsere Truppen in Ostpreußen holten die aus Goldap, Insterburg und anderen von der deutschen Armee verlassenen Städten evakuierende Zivilbevölkerung ein. Auf Wagen und Autos, zu Fuß – Alte, Frauen, Kinder, große patriarchalische Familien zogen langsam auf allen Straßen und Magistralen des Landes nach Westen.«
„Unsere Panzerfahrer, Infanteristen, Artilleristen, Fernmelder holten sie ein, um den Weg freizumachen, warfen ihre Wagen mit Möbeln, Reisetaschen, Koffern und Pferden in die Straßengräben, drängten Alte und Kinder zur Seite und stürzten sich, Pflichten und Ehre vergessend und die kampflos zurückweichenden deutschen Einheiten ignorierend, in tausendfacher Zahl auf Frauen und Mädchen.«
„Frauen, Mütter und ihre Töchter liegen rechts und links entlang der Straße, vor jeder steht eine grölende Armada von Männern mit heruntergelassenen Hosen.«
„Blutüberströmte und ohnmächtig werdende werden zur Seite gezogen, Kinder, die ihnen helfen wollen, werden erschossen. Gelächter, Gebrüll, Lachen, Schreie und Stöhnen. Und ihre Kommandeure, ihre Majore und Oberste stehen auf der Straße, einige lachen, andere dirigieren, nein, eher regeln. Damit alle ihre Soldaten ohne Ausnahme teilnehmen.«
„Nein, es ist keine Kollektivschuld und keine Rache an den verfluchten Besatzern, dieser höllische tödliche Gruppenmissbrauch.«
„Allmacht, Straflosigkeit, Entpersönlichung und die grausame Logik einer verrückten Menge.«
„Erschüttert saß ich in der Fahrerkabine des Lastwagens, mein Fahrer Demidow stand in der Schlange, und mir erschien Flauberts Karthago, und ich verstand, dass der Krieg bei weitem nicht alles vergeben wird. Der Oberst, der gerade dirigierte, hält es nicht aus und stellt sich selbst in die Schlange, während der Major die Zeugen erschießt, die hysterisch um sich schlagen – Kinder und Alte.«

Rabitschews Memoiren sind Zeugenaussagen, niedergeschrieben von einem Augenzeugen und Beteiligten. Es ist passiert! Leugnen können das nur diejenigen, deren Wertesystem auf Gewalt und Zwang basiert. Für die Patriotismus über der Wahrheit steht und sie ersetzt.

Was Marta Hillers in ihrem Tagebuch festhielt, mag nach der Lektüre von Rabitschews Erinnerungen manchem weniger schrecklich erscheinen. Doch der Schrecken, den diese Frau vor 80 Jahren in Berlin erlebte, erdrückt dennoch.

Bevor ich über dieses Buch berichte, möchte ich noch auf Folgendes hinweisen: Die heutigen russischen „Widerleger« beschuldigen Marta Hillers, angeblich eine Nazi gewesen zu sein, weil sie für einige deutsche Zeitungen jener Zeit schrieb. Es werden keine Zitate vorgelegt, die diese Anschuldigungen belegen.

Mit 16 Jahren, also 1927, versucht Marta, ihren Platz im aufwühlenden politischen Leben Deutschlands zu finden. Viele verschiedene Parteien der Weimarer Republik – von Nazis bis Kommunisten – alle schreien, jeder hat seine Wahrheit. Anfang der 30er wird Hillers Aktivistin der Kommunistischen Partei Deutschlands. 1932-33 reist die 21-jährige nach UdSSR und wird vom Zentralkomitee der KPD empfohlen, als Kandidatin in die KPdSU aufgenommen zu werden. Die Empfehlung gab ihr einer der radikalsten deutschen Kommunisten jener Zeit, Mitglied des Spartakusbundes Max Barthel.

Ein moderner russischer „Enthüller« schrieb in Putins Lieblingszeitung „Komsomolskaja Prawda« eine Rezension zu diesem Buch mit dem markanten Titel: „Millionen vergewaltigter Deutscher Frauen« sind nach Russland gelangt«. Dabei wird in Martas Erinnerungen nichts von „Millionen vergewaltigter Deutscher Frauen« gesagt.

Außerdem schreibt er:

„In den 20ern war die echte Marta eine leidenschaftliche Kommunistin, besuchte die UdSSR, lernte Russisch. Die Empfehlung für den Reichsverband deutscher Schriftsteller gab ihr Max Barthel, einer der führenden Köpfe der Spartakusbewegung und eines der ersten Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands. Später wurde Barthel einer der bekanntesten Überläufer von den ‚Roten‘ zu den ‚Braunen‘. In den 30ern nannte man solche in Deutschland ‚Beefsteaks‘ – ‚braun außen, rot innen‘. Mit ihm wechselte auch Marta.«

Für einen wenig in die damaligen Ereignisse Eingeweihten soll diese „Enthüllung« Eindruck machen. Dabei übernahm die KPD in den 1920ern und frühen 1930ern aktiv nationalistische und antisemitische Parolen der Nazis. Das vernachlässigte auch nicht der Führer der deutschen Kommunisten, Stalins Protegé Ernst Thälmann.

Teilweise deutsche Kommunisten zu beschuldigen, nach all diesen mehrfachen Schwankungen der „Parteilinie« der KPD zwischen Internationalismus und Nazismus und zurück, in die NSDAP übergetreten zu sein, kann nur ein Unwissender oder jemand sein, der bewusst verfälscht. Ganz zu schweigen davon, dass der linke Flügel der NSDAP in Gestalt der Brüder Strasser und Rem schwer von den Kommunisten an ihrer sozialen und antikapitalistischen Rhetorik zu unterscheiden war.

Was Marta Hillers betrifft, so gibt es keinen Beleg dafür, dass sie Mitglied der NSDAP wurde. Ja, nach der Machtergreifung der Nazis arbeitete sie weiter als Journalistin, aber offenbar verfasste sie keine propagandistischen Texte.

Das Hitler-Regime bot schreibenden Menschen bestimmte Nischen, in denen sie „durchsitzen« konnten, ohne sich allzu sehr mit der Arbeit für das Reich zu beflecken.

So schrieb Marta für die Studentenzeitschrift „Hilf mir!«. Ab April 1945 arbeitete sie für eine weitere Jugendzeitschrift – Ins neue Leben („Im neuen Leben«). Aus ihren Tagebüchern der ersten Wochen nach der Niederlage des Hitler-Regimes geht nicht hervor, dass sie sich irgendwie um Rechtfertigungen für ihre Arbeit sorgte. Im Gegenteil, an einer Stelle macht sie sich über eine Dame lustig, die entsetzt ist, dass ihr so etwas bevorsteht.

Mehr noch: Alle, die in der Propaganda des Dritten Reiches arbeiteten, galten zu Recht als Mittäter nationalsozialistischer Verbrechen. Mindestens wurde ihnen ein Berufsverbot auferlegt – sie durften weder unterrichten noch journalistisch tätig sein. Hillers aber arbeitete nicht nur weiter in den Medien, sondern wurde 1948-50 sogar Chefredakteurin der Jugendzeitschrift Ins neue Leben.

Marta Hillers im Jahr 1946. Foto: Wikipedia

Ein weiterer Verdacht, der von russischen Kritikern gegen Martas Memoiren erhoben wird, ist, dass angeblich niemand die handschriftliche Version ihrer Tagebücher gesehen habe. Das ist eine Lüge: Sowohl die handschriftlichen als auch die maschinengeschriebenen Versionen ihrer Tagebücher werden heute am Münchner Institut für Zeitgeschichte aufbewahrt und sind Forschern zugänglich. Die Echtheit der Handschrift sowie die Tatsache, dass die erste maschinengeschriebene Version von ihr persönlich und nicht von Dritten redigiert wurde, ist von seriösen Experten bewiesen.

Nun zum Inhalt dieses Buches.

Martas Hillers Tagebuch ist die Geschichte einer Frau, die im Zentrum eines historischen Strudels stand, dabei aber ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion und zum Verallgemeinern nicht verlor und versuchte, zu verstehen, was mit ihr und um sie herum geschah. Es sind Aufzeichnungen einer von vielen. Nicht zufällig kann der Titel ihres Buches wörtlich mit „Eine Frau in Berlin« übersetzt werden („Eine Frau in Berlin«). Allein in beiden Bedeutungen. Zum einen, weil damals wirklich niemand Nahestehendes bei ihr war, zum anderen, weil sie eine von vielen Millionen anderen deutschen Frauen jener Zeit war, die, wie sie, nur auf sich selbst und die Gnade der Sieger zählen konnten.

Hillers entfaltet vor den Augen des Lesers eine ganze Galerie von Porträts: Nachbarn, Männer, Frauen, sowjetische Soldaten. Letztere sind übrigens sehr unterschiedlich, und sie hört nicht auf, darüber erstaunt zu sein. Unter ihnen sind Schurken und Vergewaltiger, aber auch gutmütig-fröhliche und tadellos höfliche, gebildete Offiziere – kurzum, alle Arten.

Die Tagebucheinträge beginnen am 20. April 1945. Der Krieg erreicht Berlin, die Explosionen werden immer lauter. Das Leben in der riesigen Stadt stirbt langsam dahin. Probleme mit Gas, Strom, Wasser. Je näher der Krieg rückt, desto sporadischer diese Annehmlichkeiten der Zivilisation, bis sie ganz verschwinden. Die Stadtbewohner verstecken sich in Kellern. Telefon und Radio verstummen, nicht einmal mehr Ersatzzeitungen – Informationsblätter, die die Regierung in den letzten Tagen auf einer Seite feuchten Papiers druckte – werden verteilt. Das Fehlen jeglicher Informationen über das Geschehen erschreckt ebenso sehr wie das Fehlen von Licht und Wasser.

Es bleiben nur Gerüchte. Ein vertrauter Bäcker:

„Wenn sie kommen, nehmen sie alles Essbare aus den Häusern mit. Sie lassen uns nichts. Sie haben beschlossen, dass die Deutschen acht Wochen hungern sollen. In Schlesien fliehen alle schon in die Wälder und graben Wurzeln. Kinder sterben. Alte ernähren sich von Gras wie Tiere.«

Trotz Hunger, Kälte und Stromausfall verlässt Marta die Ironie nicht:

„Das ist die Stimme des Volkes. Niemand weiß etwas. Die Zeitung ‚Völkischer Beobachter‘ liegt nicht mehr auf der Treppe. Keine Frau Weier kommt und liest mir zum Frühstück die Schlagzeilen über Vergewaltigungen vor: ‚Eine 70-jährige Alte wurde vergewaltigt. Eine Nonne 24 Mal.‘ (Wer hat das gezählt?) Und das alles in großen Lettern. Sollen sie etwa Männer in Berlin ermutigen, Frauen zu schützen, und uns, uns zu verteidigen? Lächerlich. Das einzige Ergebnis solcher Informationen ist, dass Tausende hilflose Frauen und Kinder auf den Schnellstraßen nach Westen fliehen, wo sie verhungern oder unter Luftangriffen sterben können. Beim Lesen wurden Frau Weiers Augen immer rund und glänzend. Darin lag entweder Entsetzen oder unbewusste Freude, dass sie selbst das nicht erlebt hatte… Aber Zeitungen gab es seit vorgestern nicht mehr. Das Radio ist seit vier Tagen tot.«

Das Kriegsende findet Marta in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss, deren Wände undicht sind. Der Wohnungsbesitzer ist ein ehemaliger Kollege von Marta. Wo er jetzt ist, weiß sie nicht. Vor kurzem wurde er eingezogen, das letzte Lebenszeichen kam aus Wien, wo er an einer Verteilstelle war.

Das Leben in der belagerten Stadt schärft Instinkte im Menschen. Das Hauptgefühl, das Marta jetzt empfindet, ist Hunger. Das Essen wird immer weniger und schlechter. Kartoffeln schmecken nach Pappe, Reste von Käse und eine Brotscheibe sind das Frühstück. Man kann den Magen mit Kartoffeln und in Brei zerfallender Graupen füllen, aber das Hungergefühl, multipliziert mit der Angst, dass bald auch das nicht mehr da sein könnte, vergeht nicht.

Am 27. April erscheint im Keller, in dem während der Sturmangriffe die Hausbewohner Zuflucht suchen und in dem Marta fast ständig lebt, der erste russische Soldat. Ein Junge vom Land. Marta frischt ihre Russischkenntnisse auf und fragt, was er will. Er schweigt. Sie reicht ihm einen Teller Graupensuppe. Er schüttelt den Kopf. Was will er? Er grinst: „Schnaps«. Nein, hier gibt es keinen Wodka, rufen die Bewohner. Er geht weg.

Marta folgt ihm auf die Straße. Überall russische Soldaten. Einige versuchen, irgendwo gestohlene Fahrräder zu fahren. Sie können es nicht, helfen einander, stoßen ständig irgendwo gegen, was sie sehr amüsiert. Überall viele Pferde. Zwei Soldaten bitten Marta, ihnen die nächste Wasserstelle zu zeigen – ihre Pferde wollen trinken. Marta führt sie hin. Es entsteht ein recht freundliches Gespräch. Die Jungs wollen wissen, ob das Mädchen verheiratet ist, und wenn nicht, ob sie nicht einen von ihnen heiraten möchte. Nach der Verneinung endet die schlichte Anbändelei.

Filmszene aus „Die Unbekannte – Eine Frau in Berlin« (2008)

Andere junge russische Soldaten senken den Blick, wenn sie Marta begegnen. Doch dann nähert sich ein unangenehmer, angetrunkener Typ. Er lädt sie ein, mit ihm in den Hof zu kommen. Für Armbanduhren. Er hat zwei Paar. Mit Hilfe neuer russischer Freunde – Pferdepfleger – gelingt es ihr schwer, ihn loszuwerden. Sobald Marta zurück in ihre Wohnung kommt, erscheint der bäckerbleiche Bäcker. Russische Soldaten belästigen seine Frau. Marta ist die Einzige im Haus, die Russisch spricht, alle wenden sich an sie als Übersetzerin. Sie geht in den Keller und sieht, dass drei Soldaten die wohlgenährte Bäckerin umzingelt haben. Vollschlanke Frauen gefallen ihnen besonders. Patriarchalische bäuerliche Vorstellungen von weiblicher Schönheit.

Marta stürzt auf die Straße. Sie sieht einen russischen Offizier und bittet ihn um Hilfe. Er begleitet sie in den Keller, überredet die Soldaten lange, die Bäckerin in Ruhe zu lassen. Nachdem die Soldaten den Keller verlassen, geht er weg. Die Bewohner verschließen den Keller von innen. Marta klopft und schreit, aber sie öffnen nicht. Sie bleibt allein auf der dunklen Treppe, zwei Soldaten, die aus dem Keller gebracht wurden, wenden sich nun Marta zu. Sie greifen sie an, reißen ihre Kleidung. Während einer sie vergewaltigt, steht der andere Wache – schaut, dass niemand zusieht. Dann tauschen sie die Plätze…

In Berlin wird noch gekämpft, aber die Behandlung der Frauen hier, in der Hauptstadt Deutschlands, ist doch etwas anders als in Ostpreußen oder Schlesien. Vier Monate Hölle, seit die sowjetischen Truppen deutsches Gebiet betreten haben, liegen hinter ihnen. Informationen über massenhafte Vergewaltigungen und Morde an Frauen, Alten und Kindern erreichen die Weltöffentlichkeit.

Anfang April 1945 erlässt Stalin eine Verordnung über Strafen für derartige Verbrechen, bis hin zur Erschießung. Deshalb gehen sowjetische Soldaten jetzt nachts auf Jagd und versuchen, nicht vom Kommando gesehen zu werden. Bevor sie übergriffig werden, erkundigen sie sich nach dem Alter des Mädchens – für Gewalt an Minderjährigen droht besonders harte Strafe. Nach einiger Zeit erscheinen an den Haustüren Aushänge auf Russisch und Deutsch, in denen das Eindringen in Wohnungen verboten wird.

Doch die Welle derartiger Verbrechen lässt sich weder durch Stalins Erlass noch durch exemplarische Erschießungen der Schuldigen stoppen.

In derselben Nacht stürmen vier russische Soldaten mit Maschinenpistolen die Wohnung der Witwe, in der Marta nun lebt, nachdem neben ihrem Dachgeschoss eine Granate explodiert ist… Wieder eine Vergewaltigung. Diesmal ist der Täter nur einer. Er trägt sein Opfer in ein anderes Zimmer. Am Morgen stellt er sich vor: Petka. Ein riesiger, breitschultriger Bursche aus Sibirien. Er verspricht, abends wiederzukommen. Die Witwe, eine fünfzigjährige Dame, wurde in derselben Nacht ebenfalls vergewaltigt. Im Dunkeln konnte sie das Gesicht des Angreifers nicht erkennen – ein Junge, ganz unerfahren.

Abends kehrt der riesige Petka zurück und versichert Marta, dass er die ganze Zeit nur an sie gedacht habe. „Von Stunde zu Stunde wird es nicht besser«, denkt sie, „Romeo hat mir gerade noch gefehlt!«

Drei Tage später stürmen zwei weitere russische Soldaten mit Maschinenpistolen die Wohnung der Witwe. Wieder eine Vergewaltigung. Marta hält das nicht mehr aus. Sie trifft eine Entscheidung. Sie braucht jemanden Älteren in dieser Truppe, der sie vor den anderen schützt.

Sie muss nicht lange suchen. Im Hof ihres Hauses ist ein ganzes Lager Russen. Anatoli. Oberleutnant, kräftiger Bauer, vor dem Krieg leitete er eine Molkerei im Kolchos. Freundlich, behandelt Marta gut. Für eine Weile wird er tatsächlich zur Schutzmauer gegen die anderen russischen Soldaten.

Anatoli bringt seine Kameraden mit. In der Wohnung der Witwe ist es jetzt so etwas wie ein Offiziersclub. So unterschiedliche Gesichter, staunt Marta.

Da ist Iwan. Gerade mal 16. Schon Sergeant, sehr ernst, hilft der Witwe nach Kräften, spült Geschirr. Allein mit Marta gesteht er ihr: „Wir sind böse Menschen. Und ich bin schlecht, weil um uns herum das Böse ist.« Er selbst ist gut. Als ein sowjetischer Soldat wieder einmal versuchte, in die Wohnung einzudringen, richtete Iwan sein Maschinengewehr auf ihn und schickte ihn hinaus.

Dann die Charkower Grischka und Sascha. Freundliche Kerle. Grischka war früher Buchhalter. Der Untermieter der Witwe, Herr Pauli, den alle für ihren Mann halten, ist ebenfalls Buchhalter. Vor Freude trinken sie mit Grischka auf die internationale Buchhaltergemeinschaft. Herr Pauli ist begeistert. „Was für Lebenssaft, was für Kraft in diesen Russen!«, ruft er und umarmt Grischka.

In der Wohnung der Witwe, deren Türen nicht abgeschlossen werden können, weil die Schlösser von Soldatenkolben herausgeschlagen sind, taucht ein neues Gesicht auf. Das ist Andrej, im zivilen Leben Lehrer. Andrej ist orthodoxer Marxist. Belesen, kennt sich gut in Politik und Wirtschaft aus. Er macht nicht Hitler persönlich, sondern den Kapitalismus für den Krieg verantwortlich, der Hitler und Berge von Waffen hervorbrachte. Andrej meint, die deutsche und russische Wirtschaft ergänzten sich, und Deutschland, aufgebaut nach sozialistischen Prinzipien, könnte ein natürlicher Partner Russlands werden.

Marta erholt sich mit diesem Mann seelisch, zum Glück ist er der Einzige, der sich nicht für ihren Körper interessiert. Sie ist ihm nur als kluge Gesprächspartnerin wichtig. Wenn Andrej bei ihnen ist, ob er nun über Politik, Wirtschaft oder einfach Menschliches spricht oder still am Tisch Berichte schreibt, fühlt sie sich ruhiger. Die Witwe mochte ihn auch und warf sich ihm um den Hals, als er auftauchte.

Inzwischen wird Anatoli ins Hauptquartier versetzt. Marta sieht ihn immer seltener, dann wird er ganz in eine andere Stadt geschickt.

Schon bevor Anatoli endgültig aus ihrem Leben verschwindet, taucht in der Wohnung der Witwe ein neuer Offizier auf, ein Major. Zu ihnen gebracht von einem weißblonden, am Bein verwundeten Leutnant, der sie in der vergangenen Nacht gewaltsam genommen hatte. Nun stellt er sie dem Major vor. Und wo ist Anatoli? Er wird nicht mehr kommen. Marta hat das Gefühl, als werde sie wie ein Gegenstand weitergereicht.

Nina Hoss und Jewgeni Sidichin im Film „Die Unbekannte – Eine Frau in Berlin« (2008)

Der Major ist allerdings Höflichkeit und Rücksichtnahme in Person. Ein wandelndes Lehrbuch guten Benehmens. Er erkundigt sich, ob er zu aufdringlich sei und zeigt mit seinem ganzen Auftreten, dass er bereit ist zu gehen, wenn sie ihn als Last empfindet. Nein, sie empfindet ihn nicht als Last. Marta hat keine Wahl. Sie schmiedet Pläne mit ihm. Um jetzt zu überleben, braucht sie jemanden, der sie vor weiterer Gewalt schützt.

Der Major gefällt ihr sogar. Höflich, gebildet, freundlich, taktvoll. Trotz des verletzten Knies tanzt er gut. Außerdem hat er ein hervorragendes Gehör. Marta staunt, wie er auf der Mundharmonika die verschiedensten Stücke spielt, auch Klassik. Gleichzeitig ist Marta sicher: Wenn sie verlangt, dass der Major geht, wird er es sofort tun. Aber jetzt kann sie nicht allein sein.

Sie hört auf ihre Gefühle. Nein, es ist keine Liebe. Welche Liebe in einer Situation, in der man keine Wahl hat, unter dem Druck der Notwendigkeit steht? Sie braucht jetzt einfach jemanden, der sie vor weiterer Gewalt schützt. Am besten so nett und gebildet wie der Major. Und ja, der Major und seine Kameraden kommen nicht mit leeren Händen zu Besuch: Brot, Hering, Wodka – das bringen sie ständig und in großen Mengen mit, das, was für das körperliche Überleben nötig ist.

„Ist das Prostitution?« fragt Marta sich. Wahrscheinlich ja. Früher hat sie so etwas nie getan. Aber heute gehört ihr Körper ihr nicht mehr, und die Seele scheint jemand daraus herausgenommen zu haben. Sie ist gezwungen, sich zu verkaufen, um zu überleben.

Gibt es einen anderen Ausweg? Vielleicht, aber der ist viel schrecklicher. Die rothaarige Elvira, Angestellte einer Likörfabrik, wurde von mindestens 20 Soldaten vergewaltigt. Dann ließen sie sie gehen, nachdem sie ihr die Stiefel ausgezogen hatten. Sie lief danach barfuß mit ihrem Chef über Schotter und Glasscherben durch die ganze Stadt zum Haus von Marta.

„All das verdanken wir unserem Führer«, notiert Marta.

Da sind noch zwei russische Soldaten. Der eine alt, der andere siebzehnjährig, ein ehemaliger Partisan, der sich den sowjetischen Truppen im Westen angeschlossen hat. Sie kommen zu Frau Lehmann, bei der sie erfahren haben, dass sie zwei kleine Kinder hat. Sie bringen Schokolade für die Kinder mit. Der Siebzehnjährige schaut Marta an und bittet sie zu übersetzen, dass deutsche Offiziere in seinem Dorf Kinder erstochen und ihre Köpfe gegen Wände geschlagen hätten.

Bevor sie übersetzt, fragt Marta:

- Ist das wahr? Sind Sie Zeuge?
Er streng:
- Ja. Habe es zweimal selbst gesehen.
Frau Lehmann: „Ich glaube nicht! Unsere Soldaten? Mein Mann? Niemals!«
„Schweigen. Wir starren alle nach vorne. Ein deutsches Baby, nichtsahnend, beißt in einen fremden Zeigefinger, quiekt und piepst.«
„Mir sitzt ein Kloß im Hals«, schreibt Marta.

Hillers suchte weder Ruhm noch Popularität. Das zeigt, dass sie in ihrem Bericht nicht nur ihren Namen, sondern auch die Namen der Personen, über die sie schrieb, sowie sogar die Straßennamen und den Stadtteil Berlins, in dem das Haus stand, in dem sie damals wohnte, änderte. Sie veränderte sogar ihr eigenes Aussehen, verwandelte sich von einer Brünetten in eine Blondine. Sie versuchte ganz bestimmt nicht, wie man heute sagen würde, „mit ihrem Leid zu provozieren«.

Marta musste sich einfach nur äußern, mit anderen teilen, was sie selbst erlebt hatte und was Hunderttausende andere deutsche Frauen jener Zeit durchmachten. Ein Gefühl – wenn nicht von Mitgefühl, dann zumindest von Verständnis. Leider erhielt sie zu Lebzeiten von ihrem Land weder das eine noch das andere. Die folgenden fünfzig Jahre lebte sie mit ihrem Schmerz ein ruhiges Privatleben, abgeschottet von der Welt in der Schweiz, vielleicht versuchend, diese Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Ob ihr das gelang – das wird jetzt niemand mehr erfahren.

Auf dem Hauptfoto – eine Szene aus dem Film „Die Unbekannte – Eine Frau in Berlin« (2008)

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