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Wer ist Mister Selenskyj?

Über Selenskyj wird noch viel geschrieben werden – Gutes und Schlechtes, Begeistertes und Hassendes, Dankbares und Verachtendes. Jetzt haben wir zunächst die Möglichkeit bekommen, nachzuvollziehen, wie sich dieser Mensch verändert hat, der durch Schicksal und eigene Ambitionen auf dem Golgatha des Krieges gelandet ist.

„Stur, selbstbewusst, rachsüchtig, taktlos, bis zur Rücksichtslosigkeit mutig, dem Druck nicht nachgebend und gnadenlos gegenüber denen, die ihm im Weg standen, sog er den Zorn und die Standhaftigkeit seines Volkes auf und zeigte sie offen und entschlossen der ganzen Welt, wurde zur Verkörperung jener Geisteshaltung, die alle Führer in Krisenzeiten in sich selbst zu finden hoffen« – so beschreibt der amerikanische Journalist Simon Shuster gleich zu Beginn seines Buches „Showman. Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine« den heutigen sechsten Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj. Das Buch erschien im vergangenen Jahr in den USA, wurde dann ins Ukrainische übersetzt und in russischer Übersetzung im Verlag Meduza Publishing House veröffentlicht.
Shuster arbeitete 15 Jahre lang als Korrespondent des Magazins Time in der Ukraine, verließ das Land dann, kehrte aber mit Kriegsbeginn zurück – er konnte es nicht zulassen, den Krieg in dem Land zu ignorieren, dem er so viel berufliche Kraft gewidmet hatte. Außerdem interessierte ihn das Phänomen Selenskyj sehr, der es ohne jegliche politische Vorbereitung geschafft hatte, ein so komplexes kriegführendes Land zu führen – denn zum Zeitpunkt der letzten ukrainischen Präsidentschaftswahlen dauerte der Krieg im Donbass bereits fünf Jahre an.
Die Popularität Selenskyjs als Künstler in der Ukraine war enorm. Neben seiner Show „95. Quartal« liebten die ukrainischen Zuschauer die Serie „Diener des Volkes«, die bereits 2015 gestartet wurde: „…ob Komiker oder Kandidat – das spielte keine Rolle, sie liebten ihn in jeder Rolle«, schreibt Shuster. Darin sieht er den Hauptgrund für Selenskyjs so überzeugenden Wahlsieg – seine Wahlkampagne war die Serie, in der Selenskyj einen einfachen Lehrer spielte, der durch einen wunderbaren Zufall Präsident der Ukraine wurde.
Von Anfang an erzählt Shuster von dem zukünftigen Präsidenten, mit dem er zu Beginn des Präsidentschaftswettlaufs aktiv kommunizierte, als einem außerordentlich eitel, empfänglich für Schmeichelei und Lob.
In vielerlei Hinsicht trieb ihn diese Eitelkeit zu diesem Abenteuer – ohne jegliche politische Vorgeschichte außer satirischen Sketchen auf der Bühne, stürzte er sich in den Kampf um den Präsidentensessel. Doch damals, im Frühjahr 2019, konnte sich Wolodymyr Oleksandrowytsch nicht einmal im schlimmsten Traum vorstellen, welches Golgatha ihm bevorstand.
Shuster erzählt einen charakteristischen Vorfall. Bereits während des Wahlkampfs gab Selenskyj ein Konzert. Vor dem Konzert entstand aus irgendeiner Quelle der Verdacht auf eine im Gebäude platzierte Bombe. Der zukünftige Präsident war nervös, überredete aber, das Konzert nicht abzusagen. Und nach dem Konzert, so berichtet der Autor, war er so aufgeregt und glücklich über die Ovationen und den Blumenregen, dass er die gerade vergangene Gefahr schlicht vergaß und kein Wort darüber verlor.
Er verstand überhaupt nicht recht, worauf er sich einließ – er dachte, das Präsidentenamt würde sein Leben nur erheblich verkomplizieren, mit neuen Pflichten belasten, aber im Großen und Ganzen würde alles so bleiben wie bisher – Leitung des Fernsehsenders, „95. Quartal«, Auftritte, Tourneen. Wie ein Kind, das zum ersten Mal in die erste Klasse kommt und überzeugt ist, dass die sorglosen Kindergarten-Spiele nicht verschwinden werden.
„…er versicherte ernsthaft, dass er sich nur mit coolen Politikern treffen werde und die Geschäfte mit den anderen den „Profis« überlassen werde. „Ich will mein Leben nicht ändern«, sagte er. „Ich will nicht politisch korrekt werden. Das ist nicht meins.« Vielleicht sprach da sein Stolz, oder er wusste nicht, was ihn in seinem neuen Amt erwarten würde. Aber offenbar glaubte er, dass die Stellung als Staatsoberhaupt keine Veränderungen von ihm verlangen würde. Die Arbeit im Showgeschäft habe ihn alles gelehrt, was man für die Rolle des Präsidenten braucht, und er beabsichtigte, so zu bleiben, wie ihn seine Lebenserfahrung geprägt hatte. „Verliert man sich selbst«, sagte er, „zieht es einen in den Sumpf««. Natürlich können solche Aussagen eines 40-Jährigen, der um die Präsidentschaft eines kriegführenden Landes kämpft, bei den Umstehenden nur Verlegenheit auslösen.
Das Schicksal Selenskyjs ist an sich schon phänomenal, aber die Metamorphosen, die er während seiner Präsidentschaft durchgemacht hat, sprengen alle üblichen Vorstellungen von menschlicher Charakterentwicklung.

Diese Metamorphosen sind das Interessensgebiet des Autors von „Showman«. Das Buch endet im Dezember 2022, und der Autor beschreibt ausführlich die wichtigsten Ereignisse des Beginns der russischen Aggression. Da ist der erste Kriegstag, an dem Selenskyj zugleich ratlos und entschlossen ist – seine Worte, die er einem der Kommandeure während der Kämpfe um den Flughafen Hostomel zuruft, sind von Ratlosigkeit und Entschlossenheit geprägt: „Kein Erbarmen – nutzt alle Waffen und vernichtet dort alles Russische«. Leicht gesagt… Da ist Selenskyj im Bunker, der einem lebenden Toten ähnelt – blass, mit Tränensäcken unter den Augen. Allerdings waren dort alle lebende Tote – kein Licht, kein gutes Essen, kein voller Schlaf. Da fährt der Präsident an die Front zu den Soldaten, weigert sich, einen Helm aufzusetzen – er will als einer von ihnen, als derselbe Soldat erscheinen. Das wirkt kindisch, wofür ihn Freunde nicht selten tadelten. Aber so ein „Kindisches« ist im Krieg viel wert.
Wir lesen „Showman« – und sein Held wächst vor unseren Augen, verwandelt sich vom Schauspieler-Komiker (wobei viele vergessen, dass Selenskyj auch ein eigenes Imperium hatte und seine Tätigkeit nicht nur auf Unterhaltung des Durchschnittsbürgers beschränkt war) zu einer tragischen und mächtigen Weltfigur, mit der der Westen, entgegen vieler Erwartungen, schnell zu rechnen begann. Dabei ist Shusters Buch reine journalistische Arbeit, ohne literarische Ausschmückungen und Fantasien über „wie ich meinen Helden sehe«. Literarische Ausschmückungen bleiben außen vor. Vor uns liegt eine strenge, wertfreie Erzählung dessen, was der Autor gesehen, gehört und beobachtet hat. In diesem Sinne ist „Showman« eine brillante journalistische Arbeit, bei der der Journalist es schafft, fast ohne eigene Spekulationen und deklarierte Vorstellungen über den Helden, nur mit geschickt ausgewählten Fakten, ein komplexes Porträt einer komplexen Persönlichkeit zu zeichnen.
Bewundert Shuster Selenskyj? Unbedingt. Aber der professionelle Biograf-Forscher behält sich das Recht vor, sich nicht auf begeisterte Töne zu beschränken. Manchmal ist der Autor gnadenlos, er ist maximal offen sowohl dem Leser als auch dem Helden gegenüber. Übrigens wusste Selenskyj, dass Shuster an dem Buch schrieb, und war nicht dagegen. Sicherlich hat ihm später vieles nicht gefallen, und manches erschien ihm sogar beleidigend.
„Er war ein enttäuschter Führer, der Frieden versprach und ihn nicht herbeiführen konnte. Er war ein Aufsteiger, der glaubte, er könne ein Land mit 44 Millionen Einwohnern genauso führen wie sein Filmstudio«.
Eine verletzende, aber erschöpfende und genaue Charakterisierung. Ja, Wolodymyr Selenskyj war nicht auf die Präsidentschaft in einer so schweren Zeit für das Land vorbereitet. Ja, er unterschätzte die Gefahr der russischen Truppenansammlung an der Grenze. Ja, er übernahm nach Ansicht vieler ukrainischer Militärführer zu viele militärische Entscheidungen selbst, und das war nicht immer effektiv. Über all das schreibt Shuster ohne einen Hauch von Verlegenheit gegenüber seinem Helden, der das bald alles lesen wird. Und der Autor weist noch auf einen wichtigen Punkt hin: „Ich weiß nicht, ob er die Weisheit und Zurückhaltung haben wird, auf die außerordentliche Macht zu verzichten, die er in Kriegszeiten erhalten hat, oder ob er zu abhängig davon wird«. Aber das wird noch kommen, und vorerst – Krieg.
„Showman« nennen Selenskyjs Gegner in Russland ihn gern, Putins Anhänger, denen der ukrainische Präsident so verhasst ist, dass sie seinen Namen nicht einmal auszusprechen wagen (ähnlich war es mit Nawalny). In deren Mund klingt das wie ein verächtliches Urteil – was soll man von diesem Poser schon erwarten. Aber Shuster ist der Meinung, dass die Denkweise und die Fähigkeiten, die Selenskyj durch seinen Beruf erhielt, ihm im Präsidentenamt sehr geholfen haben. Das ist die schnelle Reaktion, die er in den KVN-Spielen erlernte, die Fähigkeit, Entscheidungen im Team zu treffen, und die mächtige kreative Komponente seines Berufs, die ihm erlaubt, Ereignisse aus unerwarteten neuen Blickwinkeln zu betrachten. Dazu kommt seine schauspielerische Ausstrahlung und die Fähigkeit, das Publikum zu „entflammen«.
„…die Kunst des Showmans, die er über zwanzig Jahre als Schauspieler auf der Bühne und Produzent im Filmgeschäft verfeinerte, ermöglichte es Selenskyj, diesen Krieg mit solchem Erfolg zu führen – einen Krieg, der von der Ukraine nicht nur verlangte, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der gesamten Welt zu stehen, sondern auch die Sympathien der Bevölkerung und der Regierungen auf globaler Ebene zu gewinnen«.
Das ist natürlich eine umstrittene Behauptung – die Kunst des Showmans hilft nicht immer der Kunst eines Präsidenten eines kriegführenden Landes. Außerdem erscheint, offen gesagt, angesichts der Verachtung, die Selenskyjs Gegner in dieses Wort legen, der Titel „Showman« nicht sehr gelungen.
Über Selenskyj wird noch viel geschrieben werden – Gutes und Schlechtes, Begeistertes und Hassendes, Dankbares und Verachtendes. Jetzt haben wir zunächst die Möglichkeit bekommen, nachzuvollziehen, wie sich dieser Mensch verändert hat, der durch Schicksal und eigene Ambitionen auf dem Golgatha des Krieges gelandet ist.
Auf dem Hauptfoto – Wolodymyr Selenskyj richtet sich am Vorabend des neuen Jahres, dem 31. Dezember 2024, an seine Landsleute. Quelle: Büro des Präsidenten der Ukraine